Familie Edelnand

„… wenn der Vater Fischer ist kuken die Kinder ins Wasser.“
Familie Edelnand:
Israel Edelnand wurde am 19. Mai 1885 in Ostrowo, Gouvernement Witebsk, in Russland geboren.
Im Ersten Weltkrieg war Israel Edelnand als Kriegsgefangener in dem Quedlinburger Kriegsgefangenenlager auf dem Ritteranger interniert. Das Foto von Israel Edelnand an seiner Werkbank wurde nach Auskunft seines Sohnes Salli, heute John, dort aufgenommen.
Israel Edelnand gehörte zu den russischen Kriegsgefangenen, die nach Kriegsende nicht in die Russische Sowjetrepublik zurück kehren wollten, sondern in Deutschland blieben.1922 wurde das Kriegsgefangenenlager aufgelöst, und laut dem Quedlinburger Adressbuch wohnte Israel Edelnand dann „Pölle 57“.
1924 heiratete Israel Edelnand Irene Mischkowski aus Halberstadt, die am 7. Januar 1892 in Egeln/Wanzleben geboren war. Anfangs lebten sie in dem s.g. Berend Lehmann Palais, Judenstr. 16, mit der Familie von Irene.
Später wohnten Ida und Israel Edelnand in der Wilhelmstr. 15. Hier war das Jüdische Altersheim beheimatet. Wie sich John Edelnand erinnert, hatte die Familie dort im Erdgeschoss ganz regulär eine Wohnung und Israel Edelnand seine Uhrmacherwerkstatt.
Am 5. Dezember 1924 wurde der Sohn Salli geboren und am 30. November 1928 die Tochter Ida. Sie hatte den Kosenamen „Püppchen“, weil sie so zierlich war. Die Familie lebte nach den Regeln der Halacha und war in das Leben der Jüdischen Gemeinde Halberstadt eingebunden. Salli und Ida besuchten die Jüdische Schule Westendorf 15. Salli hatte Religionsunterricht bei Rabbiner Frankl in der Klaussynagoge, Rosenwinkel 18, und sang im Synagogenchor, der von Justin Berliner, dem Kantor der Gemeinde geleitet wurde. Die Proben fanden in der großen Gemeindesynagoge oder in der Wohnung von Kantor Berliner, Bakenstr. 56 statt.
Ida hatte enge Freundinnen, mit denen sie viel Zeit verbrachte: Lilly Cohn, Ruth Lindheimer und Ruth Tuchler. Sie wohnten alle an der Plantage, eine Grünanlage im Zentrum von Halberstadt, und besuchten sich gegenseitig häufig. Auch die Eltern waren miteinander bekannt. Eintrag im Tagebuch von Lilly Rosenberg, geb. Cohn am 10. Juni 1939: „Vorgestern am Freitagabend war Ruth wieder bei uns zum essen. Nach dem essen gingen wir in die Synagoge. Ungefähr vor 4 Wochen haben wir auch was Schlimmes in der Synagoge angestellt. Am Freitagabend gingen Ruth und ich zur Synag. Jede mit einer Tasche voll Brot. Und steckten in jede Herrenmanteltasche trockenes Brot. (Denn der Garderobenhalter ist im Vorraum.) Am Abend sagten die Leute nichts dazu. Deshalb taten wir es am nächsten morgen noch mal. Da war aber Ida dabei. Wir taten es da auch. Als es aus war, mußten wir schrecklich doll lachen. (…) und dann klingelte es. Da kam Ida ganz aufgeregt zu Ruth und sagte uns, daß sich verschiedene so aufgeregt hätten, und uns und noch andere beschuldigt hatten. Wir alle hatten uns schnell angezogen, und Ruth ist zu Herrn Lundner (Jakob, Leiter der Jüdischen Schule) und hat alle Schuld auf sich genommen. (…) Herr Lundner hat sich gleich denken können, daß ich auch dabei war, aber Ruth streitete es ab. So war es auch bei allen anderen. Solchen Streich machen wir nicht wieder.“
Lilly und Ruth wurden im Sommer 1939 durch Kindertransporte nach England gerettet. Auch Salli (John) konnte in diesem Sommer 1939, wenige Tage vor dem Überfall auf Polen, mit einem Kindertransport nach England fliehen.
Seine Mutter gab ihm ein „gutes“ Stück Seife mit und sein Vater alltagspraktische Dinge, wie ein Feldbesteck und –geschirr – und eine Silberuhr, die er selbst angefertigt hatte. Mit in die Emigration nahm Salli (John) auch ein Gebetbuch, den Siddur Sephath Emeth, und den „Kleinen Höxter“, ein Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. Beide Bücher hatte er anlässlich seiner Bar Mizwa vom Vorstand der Synagogengemeinde als Geschenk erhalten: „Dem Mitglied des Synagogenchores Sally Edelnand heb. (...) gewidmet.“ Diese Mitgaben hat John Edelnand immer aufgehoben. Heute sind sie im Berend Lehmann Museum in dem Ausstellungsbereich „Kindertransporte“ zu sehen.
Ida blieb bei ihren Eltern in Halberstadt. Ihnen gelang die Flucht aus Deutschland nicht. Am 12. April 1942 wurden Israel, Irene und Ida Edelnand vom Halberstädter Domplatz aus deportiert. Über Magdeburg wurden sie in das Warschauer Ghetto gebracht. Dort verlieren sich ihre Spuren. Die letzte Nachricht von seiner Familie erhielt Salli (John) Edelnand am 14. April 1942 über das Internationale Rote Kreuz: „Geliebter Salli, Lea! Haben uns riesig gefreut ueber Nachricht. Wir sind gesund. Schreibe sofort, wir warten. Unzählige Grüsse und Küsse von Eltern, Schwester und Geschwister. Israel Edelnand, den 27. Februar 1942.“
Salli war in England. Die erste Woche verbrachte er in einem Zeltlager bei Ashford in Kent. Das Camp war organisiert wie ein Kibbuz und sollte auf die Einwanderung nach Palästina vorbereiten, d.h. die Kinder lernten landwirtschaftliche Tätigkeiten. Für die Einwanderung nach Palästina gab es, wie für die Emigration nach England, s.g. Quoten, d.h. die Zahl der Zuwanderer wurde beschränkt. In Abergele wurden die Kinder gut versorgt. Ein wichtiger Aspekt der Gemeinschaft war, mit einander zu teilen und auf einander acht zu geben. So wurden auch die Kinobesuche auf alle aufgeteilt. Salli konnte jedoch zwei Filme in der Woche kostenlos anschauen: Er hatte mit dem Kinobetreiber ausgehandelt, dass er das Zurückspulen der Filme übernahm, und das machte ihm auch Spaß.
Anschließend kam Salli auf einen Bauernhof in Nord-Wales. Hier half ihm das Englisch, das er in der Jüdischen Schule in Halberstadt gelernt hatte, nicht weiter, denn dort wurde Walisisch gesprochen. Sallis Lebenssituation verbesserte sich, als er nach Leicester zu seiner Tante Lea kam. Lea Mischkowski (*12. Januar 1899 in Halberstadt), die jüngere Schwester von Sallis Mutter Irene, hatte ebenfalls nach England fliehen können. Sie arbeitete als Hausangestellte. Ein weiterer Bruder der Mutter, Leopold Mischkowski, „Onkel Poldi“, (* 5. März 1900 in Halberstadt) der auch nach England hatte fliehen können, wurde nach Beginn des 2. Weltkriegs als „feindlicher Ausländer“ von den Engländern nach Australien deportiert.Seine Familie, mit der erin Tilsit gelebt hatte, konnte er nicht retten. Seine Frau Jenny, geb. Libowski (* 22. August 1904 in Ebenrode), und seine beiden Söhne, Siegfried, (* 27. Januar 1927 in Halberstadt), und Heinz (* 26. August 1928 in Halberstadt), wurden vermutlich 1942 mit unbekanntem Ziel deportiert. Leopold Mischkowski schloss sich der später der Australischen Armee an. Über die Armee konnte er seine Schwester Lea nach Australien holen. Dort arrangierte er für Lea die Ehe mit Rabbiner Louis Levine, der verwitwet war und zwei erwachsene Söhne hatte. John Edelnand erinnert sich: „Sie waren beide sehr glücklich und bis zum Ende ihres Lebens in einem Jüdischen Altersheim.“ Leopold Mischkowski ging in Australien eine zweite Ehe ein.
Salli, der sich nun John nannte, begann eine Ausbildung zum Uhrmacher, was seinen Vater sehr freute.
„07.II.41
Mein lieber Salli!
Deinen Brief vom 30.9. haben wir erhalten, und uns sehr darüber gefreut das Du gesund u. munter bist u. es Dir gut geht, u. das Dir die Arbeit Spass macht. Auch uns geht es gut u. sind G. s. D. alle gesund, brauchst Dir um uns keine Sorge zu machen. Den Brief welchen Du mit Tante Geni geschickte hast haben wir noch nicht erhalten, aber wir haben warten gelernt, schreibe öfter dann werden wir schon Deine Briefe erhalten. Habe an Kilovas? Seine
Eltern geschrieben, hoffe das Tante Geni* wird Dir davon erzählen. Dass Du Uhren reparierst wundert mich nicht, denn wenn der Vater Fischer ist kuken? die Kinder ins Wasser. Deine Geige liegt noch auf derselben Stelle wohlaufbewahrt u. der Fisch schwimmt munter im Wasser. Es hat uns sehr gefreut das es Tante Lea u. Onkel Poldi gut geht, lass sie von uns herzlichst grüssen. Nun bleib hübsch gesund, und lass recht bald von Dir hören. Sei herzlichst von uns allen gegrüst u. 1000 mal geküsst Deinen l. Eltern und Idchen.“
John Edelnand liess sich in Luton bei London nieder und baute dort ein Uhren – und Schmuckgeschäft auf, das er über Jahrzehnte sehr erfolgreich führte. In Luton engagiert er sich bis heute bei den Rotariern.
Die Uhrmachertradition in der Familie ist nicht abgebrochen. Ein Großneffe von Salli-John Edelnand in Israel, Itay Noy (* ?), ist ein international bekannter Uhrendesigner und -macher. Das „Studio Itay Noy – Independant Timepiece Maker“ in Tel Aviv/Jaffa entwirft und fertigt handwerklich in begrenzten Editionen ungewöhnliche Uhren. Viele Modelle sind weltweit in den Sammlungen von Design-Museen vertreten.
Die Silberuhr, die Israel Edelnand in Halberstadt angefertigt hatte und seinem Sohn Salli 1939 mit auf den Weg nach England gegeben hatte, ist nun bei Ita Noy in Israel. „…denn wenn der Vater Fischer ist kuken die Kinder ins Wasser.“